|
Ursula
Schütt
Die dunklen Flecken des Mondes
Erzählungen
Hrsg. und gestaltet von Jens-Fietje
Dwars
Mit einer Zeichnung von Gerd Mackensen
124 Seiten, Engl. Broschur, weinrotes Vor- und Nachsatzpapier
ISBN 978-3-943768-09-1
EUR 11,90 EUR
Zu bestellen beim Herausgeber.
|
Unsentimental,
lakonisch dicht und immer sinnlich genau erzählt Ursula
Schütt elf Geschichten von unheldischen Helden des Alltags.
Sie spielen keine Rollen, wollen nicht mehr scheinen, als
sie sind. Indem sie sich jedoch zu dem Wenigen bekennen, das
sie wirklich können, wachsen sie über sich hinaus.
Selten tritt die „Kraft der Schwachen“ (Anna Seghers)
so plastisch zutage wie in diesen Erzählungen. Sie berichten
von nichts geringerem als der großen Würde der
kleinen Leute, von Lebenskünstlern im Unscheinbaren.
Der Leser spürt: die Autorin liebt ihre schwierigen Figuren.
Und diese Herzenswärme, diese entwaffnende Freundlichkeit
verleiht den Geschichten den Schimmer des Wahrhaftigen, der
gelungene Literatur ausmacht.
Ursula Schütt wurde 1941 bei Meiningen
geboren und lebt in Dietzhausen bei Suhl. Sie schreibt, solange
sie denken kann. Doch an die Öffentlichkeit trat die
Autorin erst spät. Der vorliegende Band ist ihr viertes
Buch.
Für die darin enthaltene Erzählung „Froschkönig“
erhielt sie den Menantes-Preis für erotische Dichtung
2012.
Bereits 2009 erschienen von ihr Fabeln in der Edition Ornament:
"Das große Fressen".
|
|
Leseprobe
Weihnachtswunder
Heiligabend. Alma hatte wie
jedes Jahr bis Mittag im Su-permarkt gearbeitet. Vor der Haustür
klopfte sie den Schnee von den Schuhen. Der Nachbar tippte
grüßend an den Mützenschirm. Alma übersah
ihn. Unsolide Leute.
Auf sie wartete niemand. Sie drehte im Wohnzimmer die Heizung
auf und noch im Mantel mischte sie in der Küche einen
Grog. Sie trank das Glas leer und spürte die Wärme.
Sie trank noch einen Grog.
Schaben und Kratzen an der Wohnungstür. Bestimmt die
Katze von den Leuten gegenüber.
Alma tappte in den Flur und zog den Mantel aus. Ein klagender
Laut vor der Tür. Verdammtes Mistvieh!
Sie griff einen Hausschuh, riss die Tür auf und den Arm
hoch und ...
Auf der Schwelle saß ein winziges Wesen, einer großen
Taube mit Menschenkopf nicht unähnlich.
Alma starrte. Das Ding starrte zurück. Dann sagte es
mit Kinderstimme:
„Ich friere, lass mich rein.“
Ehe Alma die Tür wieder zuschlagen konnte, war das Ding
an ihr vorbeigehuscht und saß auf ihrem Sofa neben der
Heizung. Es zog sich die rote Decke über die Barfußbeine
bis zur Brust, so dass unter dem blonden Haarschopf nur noch
zwei runde nackte Ärmchen heraussahen. Was Alma für
Taubenflügel gehalten hatte, waren tatsächlich zwei
große Flügel auf dem Rücken des Kindes.
„Mein Gott, bist du bei diesem Wetter so nackt draußen
herumgelaufen?“
Das Kind kicherte: „Ich bin nicht Gott!“
„Nein, du bist frech! Gehörst du zu den Jahrmarktsleuten
von nebenan? Wolltest wohl Christkind spielen mit deinen Engelsflügeln?
Nicht mit mir.“ Alma zeigte auf die Tür. „Und
nun raus!“
Weil das Kind keine Anstalten machte, aufzustehen, griff Alma
einen Flügel und zerrte daran, so dass es halb vom Sofa
rutschte.
„Au, das tut doch weh!“ Das Kind klappte mit den
Flügeln wie ein Falter und schlug sie dann über
die nackten Arme.
Alma fuhr zurück, streckte ganz langsam erst den Zeigefinger,
dann den Arm aus und tippte einen Flügel so vorsichtig
an, als habe sie Angst, das Wesen könne beißen.
Der Grog?
Rückwärts tastete sie sich zur Schrankwand auf der
anderen Seite des Zimmers und lehnte sich an. Sie fuhr sich
mit der Hand übers Gesicht. Die zitterte genauso wie
ihre Stimme.
„Wo bist du zu Hause?“
„Na da.“ Der Finger des Kindes zeigte nach oben.
„Aha. Und wie heißt du?“
„Ego.“
„Komischer Name. Bist du ein Junge oder ein Mädchen?“
„Ich bin ein Engel.“
Alma schluckte.
Zaghaft sagte sie: „Verscheißern kann ich mich
alleine.“
Ego zog die Decke fest um den kleinen Körper. „Das
haben mir die Großen schon gesagt: ihr glaubt es nie,
wenn euch ein Engel begegnet.“
„Du lügst.“
„Sieh mich doch an. Wenn du mich auf den Arm nimmst
und gut zu mir bist, kannst du es auch fühlen. Und ich
müsste nicht mehr so frieren.“
Ego streckte die Arme aus. Alma griff das Kind argwöhnisch
mit beiden Händen am Oberkörper, nahm es hoch, setzte
es, mutiger geworden, dicht an ihrer Brust auf den rechten
Arm und legte den linken um den Rücken des kleinen Engels.
Die Flügel fühlten sich weich und glatt und sehr
lebendig an. Ego schmiegte die Arme um ihren Hals und den
Kopf auf ihre Schulter. Wärme strömte von Almas
Brust zu ihrem Bauch und machte die Beine wohlig schwer. Ganz
vorsichtig drückte sie den kleinen Körper an sich
und atmete tief einen Duft von warmer Milch, Honig und milden
Blüten. Die Locken kitzelten ihre Nase, sie erschauerte,
als ihre Lippen die seidenweiche Haut am Hals berührten.
(...)
Die Presse urteilt:
Drei literarische Reihen hat
Jens-Fietje Dwars mittlerweile im quartus-Verlag Bucha bei
Jena begründet. Neben der seit 2005 existierenden „Schwarzen
Reihe“ (EDITION ORNAMENT) hat er die QUARTUS-MINIATUREN
und die „Weiße Reihe“ ins Leben gerufen.
Band 1 der QUARTUS-MINIATUREN trägt den Titel Dunkelkammer
und enthält lyrische Prosa der in Weimar lebenden Sängerin
und Dichterin Christine Hansmann sowie einen Holzschnitt von
Martin Max. Im Band 1 der „Weißen Reihe“
werden unter dem Titel Die dunklen Flecken des Mondes
Erzählungen von Ursula Schütt und eine Zeichnung
von Gerd Mackensen und im Band 2, Ins Meer gerufen, Gedichte
von Hans-Jürgen Döring und Zeichnungen von Werner
Löwe präsentiert.
Ursula Schütt, 1941 in Meiningen geboren und heute in
Dietzhausen bei Suhl lebend,
hat sich nach ihrer Arbeit als Lehrerin und Bibliothekarin
seit 2004 intensiv dem Schreiben zugewandt und mehrere Bücher
veröffentlicht: Wie sich der Himmel verwandelt
(2007), Das große Fressen. Grimmige Fabeln und fabelhafte
Märchen (2009/mit ihrem Ehemann Siegfried Schütt)
und Gehen muss ich auf dem Faden Zeit. Gedichte (2011). Für
ihre Erzählung Froschkönig erhielt sie
2012 den Menantes-Preis für erotische Dichtung.
In den elf Erzählungen, die in dem Band Die dunklen
Flecken des Mondes versammelt sind, erzählt Ursula
Schütt von der Würde der „kleinen Leuten“,
von ihrem Alltag und ihrem bescheidenen Leben. Sie alle suchen
nicht sehr viel mehr als diesen „Duft von warmer Milch
und Honig, süßen Lindenblüten und noch etwas“,
in den Alma und der Junge von nebenan in der Geschichte Weihnachtswunder
eingehüllt werden. Diesen Duft hatte Ego, der kleine
Engel, hinterlassen. Er war versehentlich aus dem Himmel gefallen
und konnte nur zurückkehren, wenn er am Weihnachtsabend
unglücklichen Menschen ein bisschen Glück schenkt.
Dabei hat Alma ihm geholfen. Und sich auch.
Nicht immer nehmen die Geschichten in Ursula Schütts
Erzählungsband ein gutes Ende, aber stets versucht die
Autorin Aufmerksamkeit für jene zu wecken, die anders
leben wollen oder müssen als die Mehrheit der Gesellschaft:
auf die Schausteller und Karussell-Betreiber, auf Markus,
der sich eine Aus-Zeit von seiner Firma genommen hat, auf
Pia, die nicht lesen noch schreiben kann, auf den Mann, den
seine Alkoholsucht fest im Griff hat, auf die Frau, die ihren
Mann an eine Jüngere verloren hat und vor allem auf Marko,
den dicken Wachmann, dem Jenifer durch Diät und Übungen
im Fitness-Studio zu einer guten Figur verhelfen will. Marko
will nur ein „kleines“, selbst finanziertes Leben,
aber auch das wird ihm missgönnt, eines Nachts wird er
gefunden, den „Kopf auf der Bordsteinkante aufgeschlagen“,
und der „gelbe, volle Mond“ am Nachthimmel zeigte
seine „dunklen Flecken“.
Ursula Schütt zeichnet ihre Figuren genau und stark konturiert.
Auch wenn sie scheitern und unterliegen, so ist in ihnen doch
diese große Sehnsucht nach menschlicher Wärme eigen,
nach dem „Duft von warmer Milch, Honig, süßen
Lindenblüten und noch etwas.“
Dietmar Ebert, in: Palmbaum, Heft 1/2014
|