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quartus-Miniaturen

Ingeborg Stein. Der große Atem.
Lyrische Prosa mit Schabblättern von Angelika Brzóska

 

Cover

Holzschnitt der Vorzugsausgabe und Schabblatt


Hrsg. und gestaltet von Jens-F. Dwars.
Umschlag mit Stoffapplikation und Inhalt mit Schabblättern von Angelika C. Brzóska.
40 Seiten, handgeheftet in Pappband, farbiger Schutzumschlag
Einmalige Auflage in 333 num. Exemplaren.
Nr. 1-33 liegt je ein Holzschnitt Angelika C. Brzóska bei.



ISBN 978-3-943768-15-2

Normalausgabe 34-333: EUR 12,90 EUR
Vorzugsausgabe 1-33: EUR 29,90

Zu bestellen beim Herausgeber.

Ingeborg Stein (Jg.1934) stammt aus Meißen und studierte in Berlin, Jena und Leipzig Musikwissenschaft und Germanistik u.a. bei H. Besseler, H.A. Korff und Hans Mayer. 1959 bis 1964 Dramaturgin in Greifswald, Quedlinburg und am DNT Weimar, anschließend freiberufliche Arbeit als Journalistin und Mitarbeiterin von Répertoire international des sources musicales. Nach musiktherapeutischer Ausbildung bei Ch. Schwabe Einsatz an Jenaer Kliniken. Rezeptionsforschung zur Wirkung von Musik. 1978 bis 1985 Assistentin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Promotion 1982. 1985 Gründungsdirektorin der Forschungs- und Gedenkstätte im Geburtshaus von Heinrich Schütz in Bad Köstritz, die sie bis zu ihrer Emeritierung (1999) leitete.

Literarische Veröffentlichungen:
Leben sammeln. Gedichte, Bd. I: Hohenlohe 1992,
Bd. II : Weimar 2005
Lyrische Kommentare zur Geistlichen Chormusik von Heinrich Schütz. Bad Köstritz 1998
Hiddensee oder der Traum vom Eigentlichen. Inselmeditationen in Wort und Bild. Bucha bei Jena 2001,
3. Aufl. Weida 2011


 


Leseprobe

Im Tanz der Zeit

Bei meiner Ankunft in den Vorhöfen des Paradieses hatte ich zunächst angenommen, dass es überhaupt keine Zeit mehr gäbe, da sich die Einteilung unseres hiesigen Seins nicht nach der Uhr, sondern dem Lauf der Gestirne regelte. Das war – wie sich herausstellte – ein Irrtum. Vielmehr erkannte ich nach und nach immer besser, dass Zeit etwas ganz anderes ist, als ich es bisher angenommen hatte, wenn ich glaubte, wegen dieser und jener notwendig erscheinenden Geschäfte keine Zeit zu haben. Meine bisherige Sicht der Dinge war offenbar eine Verfälschung, wenn nicht sogar völlige Verkennung dessen, was sich ereignet, wenn ich vom „Lauf der Zeit“ bisher sprach, so, als liefe uns etwas davon, das außerhalb unseres Selbst existiert.
Ich beginne zu begreifen, dass es keine festen Gestalten, keine immerwährenden Zustände, keine wie auch immer gearteten Unveränderlichkeiten gibt, an denen Zeit wirklich messbar wäre. Das JETZT ist immer, und das IMMER ist ein ständiger Wandel im Jetzt, ein Wachsen und Vergehen, geheimnisvoll und unergründlich.
Auch glaube ich feststellen zu können, dass sich der Wandel in unterschiedlichen Schichten vollzieht, oft scheint er stille zu stehen, um sich dann wieder in rasender Geschwindigkeit zu verändern – manch-mal kreist er in sich, konzentriert sich in einem Punkt, öffnet sich als Schlund, der alles in die Tiefe reißt, breitet sich dann wieder in unüberschaubare Weiten aus, scheint endlos.
Meinen neuen Erfahrungen nachsinnend, saß ich am Ufer unseres Flusses, als mich eine krächzende Rabenstimme aus den Gedanken riss:
„Starrst in das Wasser, das dir ein Beispiel gibt vom immerwährenden Fließen, siehst die Wolken über dir in ständiger Veränderung und kommst offenbar nicht auf die Idee, dass dich das alles auch ganz persönlich angehen könnte ?“
„Wie meinst du das?“ fragte ich zurück. „Persönlich, ganz persönlich!“ quarrte die Stimme und schon war der Rabe wieder verschwunden.
„So, so“, denke ich und weiß nicht, ob ich mich ärgern oder lachen soll über die viel sagende Empfehlung. Ich lege mich in das sonnenwarme, duftende Gras, und während ich meinen Gedanken weiter nachhänge, schaue ich den ziehenden Wolken nach, höre auf das leise Plätschern der Wellen, die Grillen zirpen, hin und wieder ein Vogelruf. Das Einzelne verschwimmt, ich fühle mich aufgehoben im Ganzen, in wunderbarer Weise geborgen. Und vor Freude darüber beginne ich zu singen, erst leise, dann immer lauter, alles in mir singt, mein ganzer Körper singt, und ich bin überall, soweit meine Stimme reicht. Ich bin Vogel, Fisch und Fluss, Gras, Blüte und Baum, bin der mild wehende Wind und die am Himmel dahin ziehende Wolke, die gleich entschwinden wird. Und plötzlich weiß ich: Nicht uns gehört die Zeit, sondern wir gehören ihr! Ja – unser Leben ist sichtbar gewordene Zeit in einer besonderen, eigenen Gestalt. Frei wie der Vogel, frei wie die weiße Wolke am Himmel sind wir, wenn wir es nur anzunehmen vermögen – unser Glück – sein zu dürfen im Kommen und Gehen alles Lebendigen!
Diese Erkenntnis fiel in mich hinein wie ein Stein in einen tiefen Brunnen, zog Kreise und schien etwas berührt zu haben, das sich jetzt zu regen beginnt: Erst ein leiser, schütterer Rhythmus, dann eine aufsteigende Melodie – das Lied der alten Buche!
Und wieder singe und tanze ich im Kreis von anderen und erkenne mich als ein Glied in einer großen Kette, in die ich hineingehöre, wo mein Platz, mein Ort ist, der nur von mir ausgefüllt werden kann und wo ich mit meiner Stimme gefragt bin, zu meiner Zeit. Wie lange, wie kurz – war das noch wichtig? Wichtig ist, dass ich vorhanden bin als unverwechselbares und unersetzliches Teil des Ganzen, dem ich angehöre im Auf und Ab des Grossen Atems.
Als ich wieder zu mir komme, sitzt der Rabe neben mir. Hatte er mir geholfen, meine Gedanken als Hoffnung weiterzudenken? Unbeweglich sitzt er da, hat das eine Bein eingezogen, die Augen zugeklappt und gibt mir so zu verstehen, dass er für Gespräche jetzt nicht zu haben ist.
Immer dann, wenn ich glaube, etwas verstanden zu haben und weiter fragen will, ist er entweder weg oder für mich nicht mehr zu sprechen.
Als ich ihm das sage, lautet seine Antwort: „Nur, was Du selbst gefunden hast, gehört Dir, passt in Deine Wahrheit. Ich kann Dir nur helfen, weiter auf der Suche zu bleiben. Finden musst Du selbst …“

Die Presse urteilt:

In Ingeborg Steins Der große Atem ist der erzählerische Gestus weit stärker ausgeprägt als in Hansmanns lyrischer Prosa. Die Autorin ist in dieser Tiefurter Landschaft aufgehoben. Hier in den irdischen „Vorhöfen des Paradieses“ denkt sie nach über das „Leben […] und über die Wirklichkeit danach“. Hier hat sie das gefunden, wonach sie sich immer wieder gesehnt hat, nach einer Ruhe in der schönen Natur, „fern der Unruhewelt“, in der es „Zeit nicht zu geben [scheint]“. Ihre Sprache in einem oft alternierenden Prosa-Rhythmus strahlt eine große Ruhe aus. Sie lebt vom schönen Bild. Und natürlich versteht sie die Sprache der Bäume und Dinge. Vor allem die eines weisen Raben, der „auf der Kirchhofmauer hin und her [stolziert]“ und „Zwiesprache mit den Seelen im Kirchhof hielt, die er hier zu Hause weiß. Er erzählt ihnen wunderbare Dinge, von denen ich nie zuvor etwas vernommen hatte“. Freilich dieser Rabe ist ein anderer als der in Edgar Allen Poes düsterer Ballade, mit dem schlimmen Ende des Erzählers. Der Leser sollte sich nicht irritieren lassen angesichts dieses Schwelgens in der schönen Literatur. Als ob es sie nicht gäbe, die abgewrackten Industrielandschaften und jenen „Berg über der Stadt“ Weimar. Ingeborg Stein weiß darum. „Nicht uns gehört die Zeit, wir gehören ihr“, schreibt sie. Schon ihr Vorwort zeigt, sie ist sich der historischen Koordinaten dieser Landschaft wohl bewusst. „In der Landschaft zwischen der Klassikerstadt Weimar und dem KZ Buchenwald bringen sich dabei Narben in Erinnerung, die mit unser aller Vergangenheit zusammenhängen – ein Stachel von nie versiegender Aktualität.“ Und so führt der weise Rabe auch die Erzählerin im Traum „AUF DEN BERG“. In eine veränderte, eine Todeslandschaft. „Die Bäume erwachen ächzend aus ihrer starren Schönheit […] Wehlaute des Waldes im Schlaf“. Und so resümiert denn auch die Erzählerin im letzten Kapitel „DER GROSSE ATEM“: Die Unruhewelt hatte ich hinter mir lassen können, aber ihre Schatten sind mir in die Vorhöfe des Paradieses gefolgt.“ Das ist tröstlich. Wie sonst könnte man sich dem „uralten Traum von Saat, Blüte und Frucht im Wunder der Vereinigung von Himmel und Erde“ hingeben.

Martin Straub, in: Palmbaum, Heft 2/2013






 


Herstellung: poliTEXTbüro Update: 25.05.2018