Leseprobe
Im Tanz der Zeit
Bei meiner Ankunft in den Vorhöfen des
Paradieses hatte ich zunächst angenommen, dass es überhaupt
keine Zeit mehr gäbe, da sich die Einteilung unseres
hiesigen Seins nicht nach der Uhr, sondern dem Lauf der Gestirne
regelte. Das war – wie sich herausstellte – ein
Irrtum. Vielmehr erkannte ich nach und nach immer besser,
dass Zeit etwas ganz anderes ist, als ich es bisher angenommen
hatte, wenn ich glaubte, wegen dieser und jener notwendig
erscheinenden Geschäfte keine Zeit zu haben. Meine bisherige
Sicht der Dinge war offenbar eine Verfälschung, wenn
nicht sogar völlige Verkennung dessen, was sich ereignet,
wenn ich vom „Lauf der Zeit“ bisher sprach, so,
als liefe uns etwas davon, das außerhalb unseres Selbst
existiert.
Ich beginne zu begreifen, dass es keine festen Gestalten,
keine immerwährenden Zustände, keine wie auch immer
gearteten Unveränderlichkeiten gibt, an denen Zeit wirklich
messbar wäre. Das JETZT ist immer, und das IMMER ist
ein ständiger Wandel im Jetzt, ein Wachsen und Vergehen,
geheimnisvoll und unergründlich.
Auch glaube ich feststellen zu können, dass sich der
Wandel in unterschiedlichen Schichten vollzieht, oft scheint
er stille zu stehen, um sich dann wieder in rasender Geschwindigkeit
zu verändern – manch-mal kreist er in sich, konzentriert
sich in einem Punkt, öffnet sich als Schlund, der alles
in die Tiefe reißt, breitet sich dann wieder in unüberschaubare
Weiten aus, scheint endlos.
Meinen neuen Erfahrungen nachsinnend, saß ich am Ufer
unseres Flusses, als mich eine krächzende Rabenstimme
aus den Gedanken riss:
„Starrst in das Wasser, das dir ein Beispiel gibt vom
immerwährenden Fließen, siehst die Wolken über
dir in ständiger Veränderung und kommst offenbar
nicht auf die Idee, dass dich das alles auch ganz persönlich
angehen könnte ?“
„Wie meinst du das?“ fragte ich zurück. „Persönlich,
ganz persönlich!“ quarrte die Stimme und schon
war der Rabe wieder verschwunden.
„So, so“, denke ich und weiß nicht, ob ich
mich ärgern oder lachen soll über die viel sagende
Empfehlung. Ich lege mich in das sonnenwarme, duftende Gras,
und während ich meinen Gedanken weiter nachhänge,
schaue ich den ziehenden Wolken nach, höre auf das leise
Plätschern der Wellen, die Grillen zirpen, hin und wieder
ein Vogelruf. Das Einzelne verschwimmt, ich fühle mich
aufgehoben im Ganzen, in wunderbarer Weise geborgen. Und vor
Freude darüber beginne ich zu singen, erst leise, dann
immer lauter, alles in mir singt, mein ganzer Körper
singt, und ich bin überall, soweit meine Stimme reicht.
Ich bin Vogel, Fisch und Fluss, Gras, Blüte und Baum,
bin der mild wehende Wind und die am Himmel dahin ziehende
Wolke, die gleich entschwinden wird. Und plötzlich weiß
ich: Nicht uns gehört die Zeit, sondern wir gehören
ihr! Ja – unser Leben ist sichtbar gewordene Zeit in
einer besonderen, eigenen Gestalt. Frei wie der Vogel, frei
wie die weiße Wolke am Himmel sind wir, wenn wir es
nur anzunehmen vermögen – unser Glück –
sein zu dürfen im Kommen und Gehen alles Lebendigen!
Diese Erkenntnis fiel in mich hinein wie ein Stein in einen
tiefen Brunnen, zog Kreise und schien etwas berührt zu
haben, das sich jetzt zu regen beginnt: Erst ein leiser, schütterer
Rhythmus, dann eine aufsteigende Melodie – das Lied
der alten Buche!
Und wieder singe und tanze ich im Kreis von anderen und erkenne
mich als ein Glied in einer großen Kette, in die ich
hineingehöre, wo mein Platz, mein Ort ist, der nur von
mir ausgefüllt werden kann und wo ich mit meiner Stimme
gefragt bin, zu meiner Zeit. Wie lange, wie kurz – war
das noch wichtig? Wichtig ist, dass ich vorhanden bin als
unverwechselbares und unersetzliches Teil des Ganzen, dem
ich angehöre im Auf und Ab des Grossen Atems.
Als ich wieder zu mir komme, sitzt der Rabe neben mir. Hatte
er mir geholfen, meine Gedanken als Hoffnung weiterzudenken?
Unbeweglich sitzt er da, hat das eine Bein eingezogen, die
Augen zugeklappt und gibt mir so zu verstehen, dass er für
Gespräche jetzt nicht zu haben ist.
Immer dann, wenn ich glaube, etwas verstanden zu haben und
weiter fragen will, ist er entweder weg oder für mich
nicht mehr zu sprechen.
Als ich ihm das sage, lautet seine Antwort: „Nur, was
Du selbst gefunden hast, gehört Dir, passt in Deine Wahrheit.
Ich kann Dir nur helfen, weiter auf der Suche zu bleiben.
Finden musst Du selbst …“
Die Presse urteilt:
In Ingeborg Steins Der große Atem ist der erzählerische
Gestus weit stärker ausgeprägt als in Hansmanns
lyrischer Prosa. Die Autorin ist in dieser Tiefurter Landschaft
aufgehoben. Hier in den irdischen „Vorhöfen des
Paradieses“ denkt sie nach über das „Leben
[…] und über die Wirklichkeit danach“. Hier
hat sie das gefunden, wonach sie sich immer wieder gesehnt
hat, nach einer Ruhe in der schönen Natur, „fern
der Unruhewelt“, in der es „Zeit nicht zu geben
[scheint]“. Ihre Sprache in einem oft alternierenden
Prosa-Rhythmus strahlt eine große Ruhe aus. Sie lebt
vom schönen Bild. Und natürlich versteht sie die
Sprache der Bäume und Dinge. Vor allem die eines weisen
Raben, der „auf der Kirchhofmauer hin und her [stolziert]“
und „Zwiesprache mit den Seelen im Kirchhof hielt, die
er hier zu Hause weiß. Er erzählt ihnen wunderbare
Dinge, von denen ich nie zuvor etwas vernommen hatte“.
Freilich dieser Rabe ist ein anderer als der in Edgar Allen
Poes düsterer Ballade, mit dem schlimmen Ende des Erzählers.
Der Leser sollte sich nicht irritieren lassen angesichts dieses
Schwelgens in der schönen Literatur. Als ob es sie nicht
gäbe, die abgewrackten Industrielandschaften und jenen
„Berg über der Stadt“ Weimar. Ingeborg Stein
weiß darum. „Nicht uns gehört die Zeit, wir
gehören ihr“, schreibt sie. Schon ihr Vorwort zeigt,
sie ist sich der historischen Koordinaten dieser Landschaft
wohl bewusst. „In der Landschaft zwischen der Klassikerstadt
Weimar und dem KZ Buchenwald bringen sich dabei Narben in
Erinnerung, die mit unser aller Vergangenheit zusammenhängen
– ein Stachel von nie versiegender Aktualität.“
Und so führt der weise Rabe auch die Erzählerin
im Traum „AUF DEN BERG“. In eine veränderte,
eine Todeslandschaft. „Die Bäume erwachen ächzend
aus ihrer starren Schönheit […] Wehlaute des Waldes
im Schlaf“. Und so resümiert denn auch die Erzählerin
im letzten Kapitel „DER GROSSE ATEM“: Die Unruhewelt
hatte ich hinter mir lassen können, aber ihre Schatten
sind mir in die Vorhöfe des Paradieses gefolgt.“
Das ist tröstlich. Wie sonst könnte man sich dem
„uralten Traum von Saat, Blüte und Frucht im Wunder
der Vereinigung von Himmel und Erde“ hingeben.
Martin Straub, in: Palmbaum, Heft 2/2013
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