Auch ein toter Hund kann beißen
Ein Gespenst ging um in
Europa, das Gespenst hieß Kommunismus. 150 Jahre lang
hat es die Welt in Atem gehalten. Die Dauer zweier Menschenleben,
doch wie viel mehr hat dieser letzte Glaube, der Millionen
zu bewegen vermochte, mit Hoffnung erfüllt, wie viele
mit Leid, Trauer, Zorn.
Wer erfahren will, was sich hinter dem Gespenst verbarg, muß
ihm nachgehen, in die Dämmernis des Vergangenen. Viele
Pfade führen in dieses Dickicht der Überlieferungen
hinein. Man kann die Spur seiner Werke verfolgen, sie sind
ausgetreten und gut beleuchtet. Aus den Trümmern seines
Untergangs läßt sich auf ein Monster schließen,
das in einem Meer aus Blut versank. So wird man bald mehr
über das Unding wissen, als jene, die ihm gefolgt waren,
als es noch mit lebendigen Lippen sprach. Alles wird man wissen,
doch warum dieser mörderischen Bewegung so viele gefolgt
waren, das wird niemand mehr verstehen. Am Ende dieses Weges
stehen nur noch Zahlen, auf riesigen, erschlagenden Tafeln:
Waren es zehn Millionen Opfer, fünfzig, hundert? Warum
dies alles? Wozu?
G eschichte als Horrorkabinett oder Totenschau. Aus den Gedärmen
des verwesenden Leichnams, aus den Akten seiner inneren Organe,
wird auf die Leibesfunktionen des Verstorbenen geschlossen:
welch merkwürdiger Casus, die Haut übersät
mit Narben, voll innerer Blutungen und zersetzt mit krankhaften
Wucherungen. Ein Wunder, daß er so lange gelebt hat.
Man könnte aber auch die anderen fragen, die noch Lebenden
und die Toten, was sie einst in die Arme des Gespenstes trieb.
Man müßte sich auf ihre Erinnerungen einlassen,
die so unsicher sind wie unsere eigenen. Alles wäre in
Frage zu stellen, nichts als Gegebenes hinzunehmen. Eine ungewisse
Bewegung des Suchens würde den Fragenden ergreifen, für
den es nichts Selbstverständliches mehr gäbe, und
auch er selbst käme nicht heil davon, wenn er sich auf
die Frage einließe, wie er sich verhalten hätte
in den Zeiten der Not, wie er sich in und zu seiner eigenen
Zeit verhält. Denn leicht ist es, den anderen nach dem
gewohnten Maß zu messen, aber schwer, das Eigene im
Fremden zu erkennen.
Unternehmen wir einen Versuch. Befragen wir einen Dichter
nach seinen Erfahrungen mit dem Gespenst. Dichter sind von
Berufs wegen neugierig, sie müssen in die Abgründe
ihrer Zeit hinab tauchen, auch wenn sie im Alltag oft mutlos
und manchmal auch feige sind. Aber nehmen wir keinen, der
seine Zeit überragt. Brecht wird man noch in hundert
Jahren lesen, wenn wir nicht bis dahin die Erde und uns selbst
als Gattung abgeschafft haben. Brechts Liebeslyrik gehört
zum Kanon der Weltliteratur. Doch sein Lob des Kommunismus
hat die Kraft des Dokuments verloren, seit es zu den Fingerübungen
eines Klassikers zählt.
Ein anderer, aus der zweiten Reihe, verspricht mehr über
seine und unsere Zeit zu sagen. Er gehört zu den totesten
der toten deutschen Dichter, die keiner mehr lesen will. Und
dennoch hat er den meist zitierten, also den lebendigsten,
Vers der letzten zehn Jahre des vergangenen Jahrhunderts geschrieben:
„Deutschland, einig Vaterland“.
Johannes R. Becher, der Verfasser der Staatshymne der DDR
und ihr erster Kulturminister, war einst umstritten wie kein
zweiter Autor in dem geteilten Land. Im Osten wurde er gefeiert
als „Dichter des Friedens und des Sozialismus“,
im Westen verdammt als „Verräter am Geiste“...
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