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Weiße Reihe Bd. 19

Edelbert Richter. Mythen angelsächsischer Demokratie

 

Edelbert Richter
Mythen angelsächsischer Demokratie
Ideal und Realität des klassischen
Liberalismus


Mit der Zeichnung The Brains
von Thomas Nast (1871)
und zahlreichen Farbabb. politischer
Karikaturen aus den USA 1870-1930

152 Seiten, Engl. Broschur,
weinrotes Vor- und Nachsatzpapier







ISBN 978-3-947646-36-4

EUR 15,90 EUR

Zu bestellen beim Herausgeber.

Edelbert Richter, Theologe, Aktivist der Friedens- und Ökologiebewegung seit DDR-Zeiten, als Sozialdemokrat acht Jahre Mitglied des Bundestages, trat bereits vor der „Wende“ für eine eigenständige deutsche Politik ein, die zwischen Ost und West vermittelt, statt durch einseitige Parteinahme in den „furchtbaren Auseinandersetzung der Großmächte“, die er kommen sah, zerrieben zu werden. Sein jüngstes Buch fragt nach den inneren Widersprüchen der angelsächsischen Demokratie, die als Inbegriff der „westlichen Werte“ längst zum Mythos geworden ist.
Es ist zugleich sein letztes Buch, an dem der Autor bis zu seinem Tod gearbeitet hat. Der Augenblick seines Erscheinens führt es scheinbar ad absurdum: Während Edelbert Richter noch im letzten Gespräch über das Manuskript den aggressiven Charakter der westlichen Demokratie betont, erweist sich mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine der Osten als Aggressor, der das Unvorstellbare verantwortet: einen Krieg im Herzen Europas. Der Friedensaktivist hätte keine Sekunde gezögert, die Barbarei zu verurteilen. Doch Halt: Auch in diesem Fall helfen Bekenntnisse nicht weiter, brauchen wir Erkenntnisse, um einen dauerhaften Frieden zu stiften. Selbstständiges Denken und Handeln statt Aktionismus und Rüstungswahn ist nötiger denn je.


Dr. Edelbert Richter, geb. 1943, bis 1990 Dozent an der Predigerschule in Erfurt, 1977 bis
1989 Engagement in regimekritischen Gruppen und in der Friedens- und Ökologiebewegung,
1989 Mitbegründer des „Demokratischen Aufbruchs“, 1990 Eintritt in die SPD,
Mitglied der letzten Volkskammer der DDR, 1991 bis 1994 Abgeordneter im Europäischen Parlament, 1994 bis 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages, 1991 bis 2005 Mitglied der Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD, Mitglied der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler, 2005 Austritt aus der SPD, 2004 bis 2015 Lehrbeauftragter für Philosophie, starb am 23. Juli 2021 in Weimar.

Jüngste Bücher (Auswahl):
Die Linke im Epochenumbruch – Eine historische Ortsbestimmung, Hamburg 2009;
Deutsche Vernunft – angelsächsischer Verstand. Intime Beziehungen zwischen Geistes- und
Politikgeschichte, Berlin 2015;
Für ein Ende der Halbwahrheiten, Berlin 2018.

In der Weißen Reihe erschien 2020 bereits von Edelbert Richter:
Das Eigene wagen. Besinnung auf deutsche Traditionen in Politik, Kultur und Wirtschaft.

 

 

Leseprobe

„Es ist doch unser Land und unser Leben!“
Gespräch mit Edelbert Richter

Am 8. Juli 2021 führte Christoph Schmitz-Scholemann das nachfolgende Gespräch mit Edelbert Richter über das Buch, an dem er bis zuletzt geschrieben hat. 15 Tage später erlag der Autor seiner schweren Krankheit.

Kann man den Gang Deiner Überlegungen kurz zusammenfassen?
Das Buch geht davon aus, dass wir Deutschen uns in einer Befangenheit gegenüber der angelsächsischen Demokratie befinden. Das ist verständlich nach dem Zusammenbruch im Zweiten Weltkrieg, hat aber letztlich damit zu tun, dass wir in der atomaren Verteidigung völlig abhängig sind von den Vereinigten Staaten. Ich suche schon länger einen Weg, aus dieser Abhängigkeit herauszukommen. Sie ist faktisch in der Nachkriegszeit entstanden, bedeutet aber heute, dass wir gezwungen sind, bei Sanktionen gegenüber Russland zehn Mal soviel an wirtschaftlicher Potenz preiszugeben wie die USA. Es ist Tatsache, dass wir zehnmal mehr verlieren bei diesem Vorgang als die Hegemonialmacht USA selber. Zehnmal soviel, also das ist schon ein starkes Missverhältnis. Die Hegemonialmacht lässt sozusagen ihre Gefolgsmächte bezahlen.

Wofür lässt sie bezahlen?
Dafür, dass sie uns einen atomaren Schirm gewährleistet, der uns vor irgendwelchen atomaren Frechheiten oder Kühnheiten oder Dummheiten der Russen und Chinesen bewahrt. Ein anderes Beispiel ist das Investitionsabkommen mit China. Der neue Präsident der Vereinigten Staaten, Biden, wollte gleich nach seinem Wahlgewinn sicherstellen, dass von der EU die seiner Meinung nach richtigen Akzente gesetzt werden. Erfreulicherweise hat die Europäische Union beschlossen, nein zu sagen, wir machen das Abkommen mit China, ohne die Amerikaner einzubeziehen. Wir sollten hier strammer Gehilfe der Auseinandersetzung der USA mit dem mächtigen China werden. Das ist meine Frage: ob das für Europa und Deutschland die richtige Strategie ist.
Meine Strategie wäre eine andere: wir sind der große Vermittler in dieser sich abzeichnenden furchtbaren Auseinandersetzung der Großmächte. Wir nehmen nicht Partei, sondern versuchen, Vermittler zu sein. Und so käme die Menschheit womöglich zum Frieden. Aber sie kommt nicht zum Frieden, das steht vollkommen fest, wenn dieser Hegemonialkampf ausgetragen wird. Die Menschheit wird furchtbare Leiden ertragen müssen. Das ist meine Befürchtung.

Wir sollten uns als Deutsche und Europäer raushalten? Oder mit den USA brechen?
Nein, die Frage ist: Wie treten wir aus dem Schatten der Großmacht USA heraus? Das heißt nicht, dass wir die Großmacht USA brüskieren, dass wir ihr den Stuhl vor die Tür setzen. Das heißt, dass wir eine ganz präzise, kultivierte Diplomatie betreiben. Wir müssen auf die alte europäische Tradition der Diplomatie setzen.

Worauf läuft das hinaus?
Dass wir Dinge fallen lassen, die wir gewohnt sind und die auch in gewisser Hinsicht bequem für uns waren. Diese Parteinahmen für eine der beiden Seiten, die müssen unterbleiben. Angesichts dessen, dass die deutsche Industrie in China gigantische Investitionen getätigt hat, ist es völlig absurd, dass wir dort noch immer kalten Krieg spielen.
Und deswegen der Blick auf die angelsächsische Demokratie. Um herauszufinden, wofür eigentlich wir uns da engagieren?
Daher der Rückblick in die amerikanische und die britische Geschichte, in die Geschichte der angelsächsischen Demokratie. Ist diese, geschichtlich gewachsene, Form von Demokratie denn tatsächlich so vorbildlich, soll oder kann sie ein Vorbild für uns sein? Wie das immer wieder behauptet wird, wie wir es uns mehr oder weniger eingeredet haben …

Die offizielle Redewendung lautet immer: die westlichen Werte, Demokratie, Rechtsstaat …
… die westlichen Werte, genau. Also der Vorbildcharakter dieser „Werte“ wird in meinem Buch abgeschmolzen. Das ist mein Anliegen. Vieles, was wir übernommen haben, ist nach wie vor gültig: etwa das Prinzip der Gewaltenteilung, das ist unabdingbar für jede Demokratie. Es gibt aber auch Dinge, die uns zu denken geben sollten und die stelle ich in Frage: wie der permanent aggressive Charakter der angelsächsischen und der amerikanischen Demokratie speziell.

Woran sieht man den aggressiven Charakter zum Beispiel?
Ich erinnere an die Engländer mit dem Commonwealth, wie sie die Kolonien ausgesaugt haben. Ging es dem englischen Volk dadurch besser? Natürlich nicht. Und was ist daran demokratisch? Nichts. Nehmen wir den US-Präsidenten Jackson im 19. Jahrhundert. Jackson behauptet, dass die Indianer kulturlos sind, obwohl sie gerade begannen, sich zu assimilieren, Schulen und Parlamente einzurichten. Trotzdem wurden sie in dem großen „Zug der Tränen“ – so hieß das damals schon –, zu Tausenden in Reservate vertrieben. Auf dem Weg sind Tausende kaputtgegangen, wie die Fliegen. Es wurden zahllose Verträge mit den Indianern geschlossen, und immer wieder gebrochen. Schon allein das ist gegen das liberale Prinzip: Pacta sunt servanda – Verträge sind einzuhalten, das ist ein Grundsatz im Zivilrecht. Aber weder die Kolonialvölker, noch die Ureinwohner Amerikas galten als Bürger, folglich hatten sie auch keine Rechte. Ihnen gegenüber galt das Recht der Stärke: Freiwild, das man erobern kann, im Namen ihrer Zivilisierung erobern muss.

Warum ist Dir das alles so wichtig? Wann hat das angefangen?
Im Grunde genommen entspringt mein Beharren auf diesem Gegenstand, dass wir uns nicht Sand in die Augen streuen lassen in Deutschland und Europa und dass wir unsere eigenen Interessen definieren, all das entspringt aus der Angst vor einem Atomkrieg. Als die Lage sich Anfang der 80er Jahre zugespitzt hatte, da haben wir die strategischen Varianten zwischen den West- und Ostmächten durchgespielt …

„Wir“ heißt?
Das war die Friedensbewegung in der DDR. Ich war Studentenpfarrer des Friedenskreises in Naumburg. Und wir diskutierten das Abschreckungssystem, diese Logik der Abschreckung: Wenn Du meinst, mich vernichten zu können, dann vernichte ich Dich auch.

Das war die Logik.
Wechselseitig gesicherte Vernichtung. Das ist doch schrecklich. Das war die Logik der SS-20-Raketen und der Cruise Missiles. Im Westen gab es die gleiche Reaktion. Da gab es die Demonstration in Bonn mit 200.000 Leuten1, Heinrich Böll hat damals gesprochen. Und einer von uns sprach dort auch. Das war Heino Falcke2, der durfte mit offizieller DDR-Genehmigung dort sprechen. Wir durften in Naumburg, in diesem kleinen Städtchen, durften wir das erste und einzige Mal Flugblätter verteilen. Weil offenbar auch die DDR-Oberen das Gefühl hatte, dass wir am Abgrund standen. Dass es jederzeit losgehen konnte, dass die Nato anfängt oder die Sowjetunion. Bei der kurzen Distanz der Mittelstreckenwaffen war die Vorwarnzeit so kurz, dass ein technischer Defekt den Weltkrieg hätte auslösen können. Das ist ja alles aufgeklärt inzwischen. Da soll ein sowjetischer Offizier den bereits ausgelösten Alarm gebremst haben. Auf beiden Seiten waren die Systeme bereits mobilisiert, da soll ein sowjetischer Offizier gesagt haben: Ihr seid wohl verrückt geworden, das geht doch nicht, dass wir jetzt diese ganze Maschinerie in Gang setzen.3

Das war für Dich eine Zäsur?
Wir sind damals gerade noch einmal davongekommen. Wie schon 1962 in der Kuba-Krise. Diese Konstellation der drohenden Vernichtung von beiden Seiten, das war für mich der Ausgangspunkt, da habe ich gedacht: Wofür opfern wir denn unsere Völker auf? Ist das denn unser Interesse in Deutschland, in Ost und West? Seitdem geht es mir immer um die Frage des deutschen Interesses. Mir ist die nationale Frage in diesem Moment wichtig geworden, wo ich sagte: Seid Ihr denn so blöd – ihr alle, die ihr jetzt von Nationen nichts mehr hören wollt – warum stellt ihr euch nicht diese überlebenswichtige Frage nach dem eigenen Interesse? Das ist doch Selbstmord! Und von daher kommt diese ganze Überlegung, daran kannst Du alles anschließen, was mich in meinen letzten Büchern umgetrieben hat und auch jetzt wieder aufregt. Es ist doch unser Land und unser Leben.


Stimmen der Kritik

Richters gedanklicher Bogen über „Ideal und Realität des Liberalismus“ setzt an bei der Gleichheitsidee eines John Locke und arbeitet sich dann ab an den Realitäten unter Thomas Jefferson, Abraham Lincoln, Winston Churchill oder Franklin D. Roosevelt. Die Frage über alledem könnte lauten: Was dürfen demokratische Regierungen um der Demokratie willen, was dürfen sie nicht? Bei Richter ziehen sich die Demokratiedefizite quasi durch die Geschichte des Westens hindurch. Das muss man nicht teilen.
Hanno Müller, Thüringer Allgemeine








 


Herstellung: poliTEXTbüro Update: 01.04.2023